Die Näherfahrung

Nach der Geburt ihres zweiten Kindes passte ihr keine Kleidung mehr. Von Konfektionsgröße 46, in den letzten Tagen vor der Geburt, war sie nun bei 34 angelangt.

Es war aber auch anstrengend und kräftezehrend zwei Kleinkinder zu versorgen. Der eine war 13 Monate, der andere 5 Wochen.

Irgendwie sah es auch nicht danach aus, als ob sie in kürzerer Zeit wieder in ihre normale Garderobe, der Kleidergröße 40 passen würde. Selbst die Umstandsmode, die mit den verstellbaren Taillenbund, saß nicht. Alles schlabberte an ihrem Körper, sie fühlte sich nicht angezogen. Das Material berührte an manchen Stellen nicht mal ihre Haut. Außerdem war es Januar und sehr kalt.

In einer ruhigen Minute, ab und zu gab es sie, fiel ihr ein, dass ihre Tante eine Hobbyschneiderin war. Sie schneiderte sich selbst ganz tolle Hosen, Blusen und Jacken. Vielleicht könnte ihre Tante helfen. Zwei oder drei Pluderhosen selber nähen, das wäre doch etwas. Enthusiastisch griff sie zum Telefon und rief sie an. Die bekannte Stimme hatte etwas Hoffnungsvolles.

Schnell war ein Treffen ausgemacht. Bei der Tante natürlich, denn sie hatte die Nähmaschine und alles was benötigt wurde.

Eine Aufgabe bekam sie aber noch. Den Stoff, musste sie sich selber und alleine kaufen. Die Tante empfahl ein Fachgeschäft, dort würde ihr geholfen.

An dem Tag, als die erste Hose geschneidert werden sollte, kam schnell die Ernüchterung. Zuerst musste der Schnittbogen erstellt werden. Den gab es grob schon als Vorlage. Jedoch musste dieser mit der Schere für ihre Größe verkleinert werden. Das war gar nicht so einfach, brauchte seine Zeit. Der nächste Schritt war, den Stoff ausbreiten und den Schnittbogen darauf verteilen, mit Stecknadeln befestigen und wieder ausschneiden.

Jetzt stellte sich heraus, dass sie kein räumliches Sehen hatte und die Tante sehr, sehr genau arbeitete. Was für eine Überraschung, so kannte sie die Tante gar nicht.

Die Stecknadeln in den Stoff festzusetzen, mit dem Schnittbogen, war gar nicht so einfach. Immer wieder versuchten die Stecknadeln die Haut der Finger mit einzubeziehen. Das schmerzte sehr. Ab und zu stach sie sich so tief, dass Blut auf den Stoff tropfte. Schnell steckte sie den betroffenen Finger in den Mund und schmeckte ihr eigenes Blut. Es ist gar nicht so süß wie alle sagen, schoss es ihr durch den Kopf. Es dauerte nicht lange und acht der zehn Finger hatten ein Pflaster. Jetzt wurde das Arbeiten immer schwerer. Die Feinmotorik war dahin.

Nach drei Stunden harter Arbeit konnte nun gereiht werden. Mit Reihgarn wurden die ausgeschnittenen Stoffteile auf links aneinander genäht. Gut gereiht ist das halbe Nähen, pflegte ihre Tante immer mal wieder zu sagen.

Nach vier Stunden war alle Freude, aller Enthusiasmus verflogen. Sie wollte doch nur eine passende einfache Hose haben.

Ihrer Tante war ihre Enttäuschung nicht entgangen. Sie fühlte mit ihrer Nichte. Liebevoll nahm sie sie in den Arm. Sie vereinbarten, dass die Tante die Hosen nähte und sie nach Hause, zu den Kindern, fuhr.

© Bettina Dennison-Wlodek